Sie kam, sah und siegte: Beim März-Gipfel 2007 bestand Angela Merkel ihre erste Bewährungsprobe als Ratspräsidentin der Europäischen Union. Die
Bundeskanzlerin verpflichtete die Staats- und Regierungschefs auf den weltweit größten Aktionsplan gegen die globale Erwärmung. Danach soll der Ausstoß von Treibhausgasen in Europa bis 2020 um 20 Prozent unter das
Niveau von 1990 sinken, der Anteil erneuerbarer Energien EU-weit auf 20 Prozent steigen.
Doch schnell machte sich nach der Gipfel-Euphorie Ernüchterung breit. Denn alleine können die Europäer trotz der hehren Vorgaben
wenig ausrichten. Die EU stößt nur 15 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen aus. Solange die USA und China keine ähnlich ehrgeizigen Verpflichtungen eingehen, nützt es auch nichts, wenn alle EU-Bürger nur noch zu Fuß gehen. Die
eigentliche Klima-Bewährungsprobe steht bei den Verhandlungen über ein Kyoto-Nachfolgeabkommen bevor. Die USA haben zwar grundsätzliche Bereitschaft signalisiert, bindende Ziele zu akzeptieren. Allerdings sollen diese Teil
einer „globalen Vereinbarung“ sein, bei der alle großen Volkswirtschaften und damit auch die Schwellenländer identische Verpflichtungen eingehen. Kritiker werfen den USA vor, mit ihren Klimaschutzanstrengungen den UN-Maßnahmen
im Kampf gegen die Erderwärmung Konkurrenz machen zu wollen.
Der Klimawandel beschäftigte mich als EU-Korrespondentin in Brüssel im ersten Halbjahr 2007 intensiv und machte mich neugierig darauf, das Thema als
Stipendiatin der Kiep-Stiftung in Amerika weiterzuverfolgen. „Die Europäer reden viel und beschließen unrealistische Ziele, die Amerikaner handeln und entwickeln innovative Technologien“, sagte mir eine Europaabgeordnete vor
der Abreise, der die Schulddebatte vom Klima-Sündenbock USA zu einseitig ist.
Und so landete ich schließlich Anfang August im grünen Muster-Staat von Arnold Schwarzenegger – Kalifornien. Die achtgrößte Volkswirtschaft
und der zwölftgrößte C02-Produzent der Welt hat in Umweltfragen schon mehrfach neue Standards und Maßstäbe in den USA gesetzt: zuletzt etwa mit einer Milliarden-Offensive zur Förderung von Solarenergie. Im Silicon Valley
siedeln sich wegen der günstigen Bedingungen immer mehr Umwelttechnologiefirmen an. Mittendrin – in San Carlos - sitzt ein Newcomer, der noch nie ein Auto gebaut hat, aber die etablierten Konzerne vorführen
will: Tesla-Motors. In der Rekordzeit von drei Jahren entwickelte die 250-Mann-Firma eine Öko-Alternative zum Verbrennungsmotor. Seit dem Frühjahr 2008 ist der Sportwagen der Zukunft in Serienproduktion - ein Elektro-Roadster. Der „grüne“ Leisetreter holt seine Energie von 6831 Lithium-Ionen-Akkus, wie sie auch in Laptops verwendet werden. Diese versorgen den 248 PS starken Elektro-Motor mit Kraft. Ökologisch korrekt beschleunigt der Wagen so mit bis zu 13 500 Umdrehungen auf 220 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit. Rund 70 Millionen Euro steckten Erfolgsunternehmer wie Google-Milliardär Larry Page oder Ex-Ebay-Präsident Jeff Skoll in die Vision vom „grünen Sprinter“.
Seine Erfinder glauben, dass der rund 70 000 Euro teure Zweisitzer das Zeug zum Kult-Flitzer für Umweltbewegte hat und eine Revolution für die Branche bedeuten könnte. Denn auch einen Hauptgrund für den bisher eher
mäßigen Erfolg von Elektro-Autos glaubt die Firma ausgeschaltet zu haben – die geringe Reichweite. 352 Kilometer schafft der Roadster am Stück, dann muss er dreieinhalb Stunden an der Steckdose auftanken. Kostenpunkt:
zwei bis drei Dollar, inklusive des Stroms für die heizbaren Sitze, den CD-Spieler und die Klimaanlage. Erste Verträge mit Hotelketten, die Auftankstationen anbieten wollen, gibt es schon. Kalifornien strebt ein
flächendeckendes Netz im Bundesstaat an. Gouverneur Arnold Schwarzenegger hat den Öko-Sprinter ebenso vorbestellt wie Hollywood-Beau George Clooney.
Doch das soll nur der Anfang sein. Für 2010 ist der „White Star“
geplant – halb so teuer wie der Sportwagen, vergleichbar mit dem 5er BMW. Und vielleicht haben die kalifornischen Newcomer bis dahin auch den Sprung über den Atlantik geschafft. Der Tesla-Roadster wird im englischen Lotus-Werk
gebaut. Und wohl nicht zufällig befindet sich im Gestell des Elektro-Flitzers auf der Beifahrerseite ein Lenkstangen-Loch: für den Linksverkehr. Die EU-Kommission dürfte das freuen. Denn der Kohlendioxidausstoß des
Elektro-Roadsters liegt laut Hersteller bei nur 46 Gramm pro Kilometer. Im Durchschnitt schaffen europäische Pkw derzeit 161 Gramm. Brüssel fordert von den Autobauern, den CO2-Ausstoß bis 2012 auf 120 Gramm je Kilometer zu
senken. Da käme der grüne Vorzeige-Flitzer gerade recht.
Auch meine nächste Station, San Francisco, hatte unter Umweltgesichtspunkten einiges zu bieten. Die Pazifik-Stadt bastelt eifrig am Image der grünen
Muster-Metropole. Jüngstes Projekt: „Poop Power“, Energie aus Hundekot. Rund 6000 Tonnen nutzlosen Abfall hinterlassen die Vierbeiner der City jährlich. Künftig sollen die Haufen verheizt werden. Mikroorganismen zersetzen sie
zunächst in speziellen Bio-Konvertern – dabei entsteht Methan-Gas, das sich zur Elektrizitätsgewinnung und Treibstoffherstellung nutzen lässt. Experten zufolge kann man mit der Energie aus einer Tonne Tierabfall ein Haus im
Nordosten der USA zwei Wochen wärmen. Modellversuche sind geplant. Der nächste Coup ist schon in Vorbereitung: ein Gezeiten-Kraftwerk unter der Golden Gate Bridge.
Treibende Kraft hinter den Vorhaben ist
Umweltdezernent Jared Blumenfeld - ein „Überzeugungstäter“, der Fast Food hasst und Fahrrad fahren liebt. Er sagt: „Die amerikanische Gesellschaft ist krank, muss endlich aus dem Konsum-Wahn aufwachen.“ In seinem Büro hängt
eine Computersimulation von San Francisco im Jahr 2100 bei ungebremster globaler Erwärmung. Der Flughafen ist darauf vom Meer überspült. „Es ist höchste Zeit zum Handeln“, meint der Demokrat. Und zwar dort, wo die Probleme
entstehen – in den Städten. „Wenn Washington keine Führung ausübt, müssen wir das tun.“ Bis 2020 soll kein fester Metropolen-Müll mehr auf der Kippe landen. Mehr als 300 Tonnen kompostierbare Küchen- Garten- und Papierabfälle
werden jetzt schon jeden Tag von Privathäusern und der Gastronomie eingesammelt und in Dünger verwandelt. Bester Abnehmer sind die kalifornischen Edel-Winzer im Napa Valley. Die gewerblichen Müllgebühren orientieren sich an der
Menge: Wer weniger wegwirft, zahlt auch weniger. Im Jahr 2012 will San Francisco seine Kohlendioxid-Emissionen um 20 Prozent unter das Niveau von 1990 gesenkt haben, bis 2020 soll die Bus-Flotte völlig schadstofffrei fahren.
Mehr als 700 Gas-, Elektro- und Hybrid-Fahrzeuge zählt die Stadt jetzt schon zum Bestand. Das alles ist ganz im Sinne des smarten Bürgermeisters Gavin Newsom. Der umtriebige Demokrat würde am liebsten in Washington
Karriere machen. Auch deshalb
profiliert er sich gerne als Öko-Trend-Setter. Jüngst verbannte er Wasser in Plastikflaschen aus den Behörden. Seit Herbst 2007 sind in großen Lebensmittelläden und Drogeriemärkten nicht biologisch abbaubare Plastiktüten verboten. Rechne man das Öl zur Herstellung mit ein, sei die Schadstoff-Reduzierung durch das Verbot so groß als blieben mehr als 250 000 Autos einen Tag lang in der Garage, heißt es in der Verwaltung. „Das Wichtigste für die Umwelt ist, dass wir mit unseren Anstrengungen nicht allein bleiben“, meint Blumenfeld. Deshalb hat sich San Francisco mit rund 100 internationalen Metropolen zu einem Öko-Netzwerk samt eigener Umwelt-Charta zusammengetan. Ehrgeizige C02-Ziele sind darin ebenso enthalten wie die Vorgabe, bis 2015 für jeden Stadt-Einwohner eine Grünfläche im 500-Meter-Umkreis zu schaffen.
San Francisco steht beispielhaft für einen Trend in Amerika. Inzwischen haben die meisten Bundesstaaten und auch hunderte von Kommunen im gesamten Land eigene Umweltstandards erlassen, die zum Teil schärfer formuliert
sind als das Kyoto-Protokoll, dessen Unterzeichnung Washington verweigert. Auch in der Wirtschaftswelt zeichnet sich ein Bewusstseins-Wandel ab. Eine der Ursachen für das Umdenken sind die Anschläge vom 11. September 2001.
Viele US-Bürger haben erkannt, dass die Abhängigkeit ihres Landes vom Öl Gefahren mit sich bringt. Auch der Hurrikan „Katrina“ und Al Gores Dokumentarfilm „Eine unbequeme Wahrheit“ haben die Bürger für die Konsequenzen der
Erderwärmung empfänglicher gemacht. Mehr Gehör finden auch religiöse Institutionen, die für den besseren Schutz der göttlichen Schöpfung eintreten – wie etwa die Evangelikalen, die bekanntermaßen keinen unbeträchtlichen
Einfluss auf George W. Bush und das Republikaner-Lager haben.
Bestseller-Autor Jeremy Rifkin stimmt dies nur mäßig optimistisch. Er predigt den radikalen Wandel. „Amerika hat das Ausmaß der drohenden Katastrophe
überhaupt nicht begriffen“, sagt der Präsident der „Foundation on Economic Trends“. Seine Hoffnung: Europa muss entschlossen vorangehen.
Ich besuchte ihn zum Interview in seinem Büro bei Washington. Kartons mit zehntausenden Karteikarten säumen die Fensterfront. Darauf hat er handschriftlich Zitate und Kern-Thesen aus der Hintergrundliteratur für seine Veröffentlichungen notiert. „Ich schreibe Bücher noch auf altmodische Weise“, sagt der Zukunfts-Vordenker, den US-Ranking-Listen zu den 150 einflussreichsten Intellektuellen Amerikas zählen.
Rifkin hört nicht gerne zu, er redet lieber – eindringlich, emotional, mit
missionarischem Eifer. Visionen in Worte zu fassen, das ist seine Stärke. Bundeskanzlerin Angela Merkel hört ebenso auf seinen Rat wie die EU-Kommission. „Wer glaubt, mit den bisherigen Maßnahmen den Klimawandel eindämmen zu können, ist naiv.“ Die wichtigste Mission der Zivilisation sei es, in den kommenden Jahrzehnten von fossilen Brennstoffen und vom Uran wegzukommen. „Wir brauchen eine dritte industrielle Revolution“, meint der Amerikaner. Diese ist für ihn weitgehend emissionsfrei, basiert auf Wasserstoff und beendet somit die Ressourcen-Abhängigkeit westlicher Industrienationen.
In rund 30 Jahren sind in Rifkins Wunsch-Welt Eigenheime, Fabriken, Autos, Laptops und Handys mit tragbaren oder stationären Wasserstoff-Brennstoffzellen ausgestattet, die erneuerbare Energien speichern und bei Bedarf
durch eine chemische Reaktion in Elektrizität umwandeln. Unternehmen, Stadtverwaltungen und Hausbesitzer produzieren nicht nur ihre Energie, sie werden selbst zu Mini-Kraftwerken. Sein Fernziel: Millionen solch lokaler
Produzenten von erneuerbarer Energie tauschen europaweit miteinander Strom über große Flächen und smarte Netze aus, die auf die gleiche Technologie wie das Internet zurückgreifen. Erwünschter Nebeneffekt: Die Macht der
Energie-Oligopole hat sich damit überlebt.
Kritiker halten Rifkin für einen gutmenschelnden Träumer. Doch der US-Bestsellerautor, der Subversion im Maßanzug als Selbstvermarktungs-Konzept betreibt,
glaubt an seine Vision – und die EU. Die Gemeinschaft habe mit ihren ehrgeizigen Klimazielen eine Führungsrolle in der Welt übernommen. Außerdem tauge ihr Politik- und Wirtschaftsmodell trotz aller Schwächen noch am ehesten zum globalen Vorbild. „Europa ist die neue Supermacht“, glaubt der Amerikaner. Und so mitreißend, wie er dies kundtut, möchte man ihm glatt glauben. Die EU steckt Millionen in die Forschung für die Rifkinsche Revolution. Bis 2020 sollen robuste Brennstoffzellen für eine klimaschonendere Energiegewinnung entwickelt sein.
„Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob diese Technik funktioniert, sondern wann sie wettbewerbsfähig sein wird“, meint EU-Energiekommissar Andris Piebalgs.
In Washington D.C. traf ich weitere Experten zum
Thema Erderwärmung sowie viele Wissenschaftler, Interessenvertreter und Kollegen, die sich mit den deutsch-amerikanischen Beziehungen, der Nato sowie dem Verhältnis EU-USA beschäftigen – darunter Frances Burwell vom
Atlantic Council of the United States, Jackson Janes vom American Institute for Contemporary German Studies, Leo Michel vom Institute for National Strategic Studies sowie Vertreter vom German Marshall Fund und der
EU-Kommission.
Eins wurde dabei sehr schnell klar: Trotz der viel beschworenen „transatlantischen Partnerschaft“, engsten Wirtschaftsbeziehungen sowie einer großen Zahl amerikanischer Touristen, die Europa
bereisen, interessiert in den USA nur einen harten Kern, was die EU ist, welchen Stellenwert sie hat und wie sie „funktioniert“.
Wie unterschiedlich die Sichtweisen und Konzepte teilweise sind, zeigte sich am
deutlichsten in Gesprächen mit Nato-Fachleuten. Da ich als Brüssel-Korrespondentin auch für die Allianz zuständig bin, wollte ich gerne in den Staaten auf diesem Gebiet Kontakte knüpfen. Ich erlebte genau jene Diskussion um
eine faire Lastenverteilung, die in Nato-Kreisen seit Jahren geführt wird. „Deutschland darf sich nicht länger hinter seiner Geschichte verstecken. Die Bundeswehr muss im Süden Afghanistans kämpfen“, sagte mir James Townsend
vom Atlantic Council, der lange im Pentagon und in der US-Botschaft bei der Nato tätig war. Es könne auf Dauer nicht sein, dass die einen Brunnen bohren und die anderen sterben. Natürlich respektiere man, dass Deutschland
ein Parlamentsheer habe. Doch die Bundesregierung müsse der Öffentlichkeit offensiv klar machen, dass Kampfeinsätze
eine Frage von Bündnis-Solidarität und Verantwortung seien. „Es geht um die Glaubwürdigkeit der Nato – nicht um eine Rückkehr in Zeiten der Pickelhaube oder der Gestapo. Deutschland hat eine besondere Verpflichtung, weil es über entsprechend gut ausgebildete Soldaten verfügt.“ Die USA könnten, auch angesichts der Lage im Irak, nicht mehr hauptsächlich alleine die Lücken bei Manpower, Money und Material im Bündnis füllen. Die europäischen Verbündeten müssten sich mehr engagieren und in ihre Verteidigung investieren.
Beim Thema Afghanistan prallen im Bündnis zwei Sicherheitsphilosophien aufeinander. Die USA sehen im militärischen Kampf gegen die Taliban den Schlüssel zur Stabilisierung des Landes. Für andere - darunter Deutschland -
liegt dieser im zivilen Aufbau, der Hilfe zur Selbsthilfe für die Afghanen. Die Allianz leidet unter einem „clash of civilizations“. Die USA wollen Demokratie exportieren, um Sicherheit zu importieren. In der europäischen
Wahrnehmung haben sie bisher mit ihrem „militärischen“ Ansatz jedoch das Gegenteil erreicht. Sie exportieren Krieg und importieren Unsicherheit. Diese unterschiedliche Sicht der Dinge zeigt sich auch in anderen Fragen und ist
zurzeit das Kern-Problem der Allianz. Sie ist politisch uneinig über Sinn und Zweck, Weg und Ziel.
Zwischen denen, die das Bündnis als einzige Militärmacht der Welt erhalten wollen, und jenen, die sein ziviles und politisches Gewicht stärken möchten, gibt es tiefe Gräben, aber kaum Brücken. Die Wirklichkeit in
Afghanistan zeigt, wie sehr die bisherige Diskussion über die Zukunft der Nato von Wunschdenken geprägt ist. „Transformation“ lautet das Zauberwort. Das alte Verteidigungsbündnis der Nachkriegszeit soll zu einer globalen
Interventionsmacht werden, die sich vom Cyber-Terrorismus über die Erdbebenhilfe bis zur Energiesicherheit um alle Übel der Welt kümmert. Als Symbol dieses Wandels wurde vor gut einem Jahr die 25 000
Mann starke Krisenreaktionstruppe NRF aus der Taufe gehoben. Sie muss nun auf einen Mini-Kern zusammenschrumpfen, weil Soldaten und Material fehlen. Die Verbündeten können oder wollen nicht liefern. Die Nato
übernimmt immer mehr weltweite Verpflichtungen, ist aber immer weniger in der Lage, über ihre Mitgliedsstaaten die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Es ist höchste Zeit für eine Grundsatzdebatte. Die Nato
braucht einen politischen Konsens darüber, was das Bündnis leisten soll bzw. kann – und was die Partner dafür zu geben bereit sind. Die Diskussion über eine neue Strategie wird die Agenda der Allianz ebenso weiter
beherrschen wie der Einsatz in Afghanistan. Denn für die Nato geht es dort um mehr als einen Sieg über Terror und Taliban: Sie kämpft am Hindukusch um ihre Glaubwürdigkeit und ihre weltpolitische Bedeutung. Soldaten und
Material fehlen. Der Streit um eine gerechte Lastenverteilung in einer auf Solidarität und Teilung des Risikos gegründeten Allianz ist also nicht beendet. Der Druck auf Deutschland wird nicht nachlassen. Denn auf Dauer hält das
Bündnis eine Zweiteilung in Kämpfer und Brunnenbohrer kaum unbeschadet aus. Eine weitere Station meiner Reise war das Napa Valley: Die EU-Weinmarkt-Reform hat die Gemüter der deutschen Winzer lange erregt. Sie zielt darauf
ab, die Überproduktion von billigen Tafelweinen vor allem im Süden der EU zu stoppen und die Winzer angesichts zunehmenden Drucks der überseeischen Mitbewerber (Australien, Chile, Südafrika, USA) konkurrenzfähiger zu machen.
Besonders umstritten ist, inwieweit US-Methoden wie Holzchips statt Barrique-Fass-Reifung auch in Europa Einzug halten sollten. Ich habe mir die Produktion der kalifornischen Edel-Weingüter ebenso angesehen wie das Phänomen
Billigwein. Der Verkaufs-Schlager des Großproduzenten Bronco heißt „Two buck chuck“ und wird bei
der Aldi-Tochter Trader Joe’s vertrieben. Er gilt als Synonym für alles, was Europäer unter industriellem Kunstwein verstehen und verschmähen. Dennoch gewinnt der Discount-Tropfen immer wieder Feinschmecker-Tests – auch gegen hochpreisige Konkurrenz.
In Boston bin ich anschließend der Frage nachgegangen, wie der Bundesstaat Massachusetts sein Gesundheitssystem reformiert. 47 Millionen Amerikaner sind für den Krankheitsfall nicht abgesichert. Als „schändliche Narbe“ für
die USA bezeichnet Harvard-Professorin Regina Herzlinger diesen Zustand in ihrem provozierenden Buch „Who Killed HealthCare?“. Gleichzeitig geben die USA aber zwei Billionen Dollar und damit 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
jährlich für die Gesundheitsvorsorge aus. Angesichts dieser Kostenlawine werden die Rufe nach Reformen immer lauter – auch im laufenden Wahlkampf. Bisherige Versuche auf Bundesebene, wie der von Hillary Clinton kurz nach dem
Amtsantritt ihres Mannes im Weißen Haus 1993, scheiterten kläglich. Der große Wurf lässt auf sich warten. Massachusetts versucht eine „Revolution“ im Kleinen. Der Bundesstaat beschloss eine allgemeine Versicherungspflicht. 350
000 bis 400 000 Unversicherte sollen unter das Dach einer Krankenkasse gebracht werden. Seit dem Ausscheiden von Mitt Romney aus dem Gouverneursamt Anfang 2007 ist John Kingsdale zur Schlüsselfigur des Reformvorhabens
avanciert. Ich traf den Chef der „Commonwealth Health Insurance Connector Authority" zum Gespräch. Bei ihm können sich kleine Arbeitgeber und Bürger ohne Job eine Versicherung besorgen – und teilweise staatliche Zuschüsse
dafür beantragen. Es sei billiger, eine Krankenversicherung für jedermann einzuführen, als die Krankenhausrechnungen der Unversicherten zu begleichen, meint der Reformer. Denn die Kliniken verlangten von Unversicherten oft mehr
für identische Leistungen als von Versicherten. Der Grund: Während die Kassen die Belege ihrer Mitglieder genau prüften, springe bei den Unversicherten der Staat ein. Und dieser stelle bisher zu oft Überweisungen ohne große
Kontrolle aus.
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